Globale Ausgangssituation
Die Globalisierung, die demografische Entwicklung und vor allem die Digitale Transformation bieten Risiken und Chancen zugleich. Vor dem Hintergrund der sich schnell verändernden Markt- und Kundenanforderungen in einem internationalen Wettbewerbsumfeld wirkt die Digitale Transformation aktuell als ein zentraler Treiber für die Veränderung von Produktions- und Dienstleistungsprozessen in deutschen Unternehmen. Aktuelle Trends wie „Industrie 4.0“ und das Internet der Dinge und Dienste (inkl. Plattformökonomien) bzw. die zunehmende informationstechnische Verknüpfung von Objekten zu Cyber-Physical Systems revolutionieren komplexe soziotechnische Systeme weit über die Produktion hinaus. Dabei ist zu beobachten, dass sich ganze Berufsbilder, Arbeitsaufgaben und Tätigkeitsprofile wandeln. Gerade KMU stehen vor der Herausforderung, für diese Entwicklungen die für sie passenden Antworten zu finden.
Motivation und Bedarf

Heutige Produkte weisen oftmals einen so hohen Spezialisierungsgrad auf, dass sie erst in vollem Umfang zur Wertschöpfung der Unternehmen beitragen, wenn sie in Kombination mit einer begleitenden Dienstleistung angeboten werden. Diese Kombination geht zwangsläufig mit einer neuen Arbeitsteilung und neuen Formen der unternehmensübergreifenden Zusammenarbeit zwischen Beschäftigten und Unternehmen in der gemeinsamen Wertschöpfungskette einher, da Produkt und begleitende Dienstleistung häufig von verschiedenen Unternehmen erbracht werden. Eine daraus folgende Aufgabenstellung ist die Qualifizierung und Kompetenzentwicklung der Beschäftigten auch über die eigenen Unternehmensgrenzen hinweg. Produkt- und Prozessinnovationen lassen sich somit erst gemeinsam im Rahmen einer übergreifenden lernförderlichen Arbeitsumgebung ausschöpfen (Problem 1: Fehlende übergreifende Kompetenzentwicklung in Arbeitsprozessen entlang der Wertschöpfungskette).

Es ist zudem zu erwarten, dass die Belegschaften der Zukunft in puncto Altersstruktur und Herkunft wesentlich vielfältiger werden. Diese Vielfalt kann richtig genutzt eine Chance für die deutsche Wirtschaft darstellen. Die erforderlichen Kompetenzen von Beschäftigten und Unternehmen müssen hierfür gleichermaßen eingebunden und verbessert werden, um den gesellschaftlichen Herausforderungen, wie demografischem Wandel und Wertewandel, erfolgreich begegnen zu können. Bisher fehlen aber weitergehende strategische Ansätze, diese absehbaren Änderungen für KMU in wertschöpfende Arbeitsprozesse zeitgemäß zu überführen. Austausch und Zusammenwirken in der Wertschöpfungskette werden jedoch insbesondere dadurch erschwert, dass Beschäftigte nicht alle Prozesse und Arbeitsschritte der jeweils anderen im Detail nachvollziehen können. Bei bestimmten Tätigkeiten helfen hier Instrumente wie „Job Rotation“, um einen Eindruck über die vor- oder nachgelagerten Arbeitsprozesse zu erhalten; dieses ‚klassische‘ Prinzip einer lernförderlichen Arbeitsorganisation stößt in einer sich rasch wandelnden, digitalen und globalisierten Arbeitswelt und unternehmensübergreifender Kollaboration jedoch sehr schnell an Grenzen. Hier setzt das Projektvorhaben an: Während Virtual Reality (VR)-Simulationen in solchen Settings genutzt werden können, um ex ante digitale Lernräume für die Entwicklung der oben beschriebenen spezifischen Kompetenzen und erfahrungsbezogenen Wissensbestände bereitzustellen, erlauben Augmented Reality (AR)-basierte Assistenzsysteme, ad hoc die virtuelle Integration fachlicher und professioneller Perspektiven und Wissensformen im konkreten Arbeitsablauf und verknüpfen die Lernräume mit der Arbeitspraxis. Entscheidend dabei ist, dass dadurch keine Dequalifizierung von Beschäftigten erfolgt, sondern die Lernförderlichkeit im Vordergrund steht. Dazu gehört auch die Einbindung der Erfahrungen und des übertragbaren Erfahrungswissens der verschiedenen Kompetenzträger (z.B. in altersgemischten Teams) und die Integration aller Beschäftigungsgruppen in die aktuellen und die neu zu gestaltenden Arbeitsprozesse (Problem 2: Unzureichende Einbindung von Demografie und gesellschaftlicher Vielfalt in Arbeitsprozesse).

Heutzutage sind produktbezogene Dienstleistungen ein zentrales Element im Wertschöpfungsprozess. Beispielsweise werden Montagen, Wartungsarbeiten und die Instandsetzung von Maschinen und Industrieanlagen nicht beim Hersteller durchgeführt, sondern beim Kunden durch externe Dienstleistungsunternehmen, sodass der eigentliche Hersteller diese Arbeiten häufig nicht evaluieren und die Produkte und Prozesse nicht verbessern kann. Des Weiteren fließen die Erfahrungen aus den Wartungsprozessen nur bedingt an die Konstrukteure der Maschinen und Industrieanlagen zurück. Wenn aber Konstrukteure die Möglichkeit bekommen, die Konstruktionen in Bezug auf die Instandsetzung zu evaluieren, dann können daraus verbesserte Konditionen für die Wartung und Instandsetzung resultieren. Häufig ist genau diese Evaluation realitätsnah nur schwer zu erreichen, wenn Maschinen z.B. in einer sehr großen Höhe oder unter anderen gefährlichen Bedingungen gewartet werden, sodass das Instandhaltungspersonal besonders geschult sein muss. Weiterhin sind die wirklichen Abnutzungen und das Fehlerverhalten von Bauteilen und deren Wartung nur dem Instandhaltungspersonal im Detail bekannt, ohne dass diese entwicklungsrelevanten Daten zur Verwertung, insbesondere zum Anstoßen von Innovationen, rückgekoppelt werden. Eine mögliche Antwort auf dieses Problem wäre, dass primär nicht an der Instandhaltung beteiligte Beschäftigte diese Situationen miterleben und erfahrungsbasiert auswerten können. Die Verbesserung von Arbeitsfähigkeit durch Nachvollzug und die Verminderung von Risiken mittels Nutzung neuer Arbeits- und Organisationsformen sollten demzufolge in den Fokus gerückt werden: einerseits durch die Entwicklung von VR-Simulationslösung aus den konkreten Arbeitsabläufen heraus, die für die Entwicklung von Kompetenzen genutzt werden, andererseits AR-Umgebungen, die Beschäftigte z.B. in Form von Wearables punktuell im Arbeitsablauf assistieren und damit lernförderlich und qualitätssteigernd wirken. Diese AR-Umgebungen sollten auch interaktiv gestaltet sein, so dass ein wechselseitiger ortsunabhängiger Wissensaustausch gefördert wird (Problem 3: Fehlende Evaluationsmöglichkeiten von wertschöpfungsübergreifenden Arbeitsprozessen).
Anwendungsbeispiel

Die beschriebenen Problemlagen treffen auf viele mittelständische Unternehmen zu. VETTER produziert Krananlagen, die u.a. durch die Mitgliedsunternehmen der Gütegemeinschaft Kranservice errichtet und gewartet werden. Es bedarf jedoch eines verbesserten Wissensaustausches zwischen den vor- und nachgelagerten Bereichen und besserer Möglichkeiten zum gegenseitigen Erwerb von erfahrungsbasierten Kompetenzen (vgl. Problem 1). Spezialinstallationen (z.B. in Kraftwerken oder in großen Höhen) verhindern oftmals einen aktiven Austausch der jeweiligen Experten (vgl. Problem 2). Aufgrund der begrenzten Möglichkeit des Austauschs ist die Evaluation nur eingeschränkt möglich. Insbesondere produktferne Beteiligte haben bislang nur bedingt Möglichkeiten der Produktweiterentwicklung (vgl. Problem 3).